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Nahaufnahmen reizen den Fotografen. Im Fall Tschernobyl kann dies tödlich sein. Igor Kostin, der die eindrucksvollsten Bilder der Atomkatastrophe veröffentlicht hat, war der erste Augenzeuge, der für die Nachwelt in Tschernobyl fotografiert hat. Das Eingangsfoto ist das einzig existierende Foto vom Tag des Unfalls selbst. Die Grobkörnigkeit des ersten Fotos ist auf die extrem hohe Strahlung zurückzuführen, alle anderen Aufnahmen dieses Filmes sind vollständig schwarz. Igor Kostin zeigt seine restlichen Fotos in schwarzweiß und teilweise bunt. Wir sehen den komplett zerstörten Reaktorblock. Die Hubschrauberpiloten werden im Anflug auf das Technikchaos des explodierten Reaktorkerns abgelichtet. Die in Bleimänteln versteckten Liquidatoren, die ihre Gesundheit, ja ihr Leben riskieren und teilweise mit bloßen Händen die hochverstrahlten Grafitteile in den Reaktorschlund zurückzuwerfen sowie die sich derweil in der verstrahlten Zone abmühenden Feuerwehrleute werden gezeigt. Sie spritzen die Häuser der Dörfer mit Wasser ab. Ganze Ansiedlungen werden dem Erdboden gleichgemacht und die Menschen aus den Dörfern vertrieben. Das Riesenrad in der verlassenen Stadt Pripjat steht immer noch still. Kostin zeigt das Epizentrum der Explosion, dort wo die Kernschmelze stattgefunden hat und sich in den Boden fraß. Eindrücklich dokumentieren Bilder aus der verbotenen Zone 30 Kilometer rund um den Reaktor die Folgen der Katastrophe: So taucht zum Beispiel das Foto eines achtbeinigen Fohlens auf. Auf dem verstrahlten Maschinenfriedhof dümpelt der radioaktiv verseuchte Schrott vor sich hin und gefährdet das darunter fließende Grundwasser. Kostin zeigt auch die zurückgekehrten Bauern, die sich einen Dreck um die Strahlung kümmern, weil sie überleben müssen. Er übermittelt so die einzelnen Etappen des Reaktorunfalls und unterstützt seine Fotografien gekonnt mit vorangehenden Textpassagen und Zitaten. Der Fotograf Igor Kostin, dessen Lebenswerk wir hier vor Augen haben, erzählt in dem Buch auch eindrucksvoll seine Lebensgeschichte und er zieht schließlich selbst das Fazit: Was in Tschernobyl geschehen ist, ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Kostin übt glaubwürdig und begründet Kritik am kommunistischem System und wirft der Regierung vor, dass das Unglück hätte verhindert werden können. Wären die vorangegangenen Störfälle ernst genommen worden und hätte man nicht versucht das Unglück zu vertuschen, so hätte die gesamte Welt anders vorbeugen und helfen können. Die sowjetische Starrköpfigkeit wird so dem Leser realistisch vermittelt. Besonders gelungen ist die Schilderung der Gefahr der Radioaktivität: Etwas, das man nicht riechen, hören oder sehen kann wird zwangsläufig von Menschen in seinem zerstörerischem Ausmaß unterschätzt.
Mir persönlich gefiel vor allem die Botschaft, die das Buch zusätzlich birgt. Selbst ohne viel Text schaffen es die Fotografien Kostins Informationen zu überbringen und erzeugen Betroffenheit sowie Erschütterung beim Leser. Es wird deutlich, dass solch eine Katastrophe sich nie wiederholen darf.
Nahaufnahme-Tschernobyl: Eine Lektüre für alle, die sich für Geschichte sowie Atomkraft interessieren und Näheres über deren gravierenden Folgen für den Menschen und die Natur erfahren möchten.
Isabelle Mohr